Jedes Mal wenn ich als Kind wütend war, bin ich in Tränen ausgebrochen. Es war mir zu gefährlich, wütend zu sein und mit einem klaren Nachdruck auszusprechen, was ich will. Stattdessen habe ich unbewusst Traurigkeit in meinen Gefühlsausdruck hinein gemischt, damit ich kleiner, hilfloser, harmloser wirke und sich andere meiner Bedürfnisse annehmen.
In meiner Familie gab es eine klare Rollenaufteilung, was Gefühle betraf. Die Traurigkeit war mein Zuhause. Wut gehörte zu meiner Mutter. Sie konnte explodieren, auf den Tisch hauen und auch ihr Junges wie eine Löwenmutter verteidigen. Allerdings auf eine Art und Weise, die zwar dazu geführt hat, dass sie häufig bekam, was sie wollte – aber mit der Beziehungen stark gelitten haben. Als sie starb, sagte sie, dass ihre Putzhilfe ihre beste und vielleicht auch einzige Freundin wäre.
Ich liebe Menschen. Ich wollte schon immer eine große Familie haben, in Gemeinschaft leben und mit meinen Freund*innen zusammen sein. Vor diesem Hintergrund, dass wütende Menschen anscheinend einsam sterben, erschien es mir nicht wirklich erstrebenswert, selbst wütend zu sein. Bis mein Partner mir eines Tages spiegelte, dass es ihm schwer fiel mich ohne meine Wut zu spüren. Die Wut musste also noch für etwas anderes gut sein, als sich zu bekämpfen. Also begab ich mich auf eine Erkundungsreise…
Ich entdeckte, dass Wut eine Energie ist, mit der ich in Aktion gehe, etwas beginne oder beende, mit der ich Entscheidungen treffe und Grenzen setze. Mit diesem Bewusstsein nutze ich meine Wut-Kraft zum Aufstehen, Zähneputzen, Essen und gerade jetzt zum Schreiben diesen Artikels. Wut kann ich also in geringen Dosen nutzen. Es sind kleine Impulse. Ich muss nicht erst explodieren und wahllos Menschen niedermetzeln.
Mich selbst im Umgang mit Wut zu trainieren, heißt nicht, dass ich direkt einen Schalter umlege und meine Wut ausschließlich zum Handeln nutze. Wenn ich explodiere, dann passiert es häufig, weil ich die kleinen Wut-Impulse nicht bemerke oder ein Teil von mir sie nicht bemerken will und genügend Ablenkung schafft. Oder weil ich physisch unausgeglichen bin durch zu wenig Schlaf, Nahrung oder zu viel Kälte oder weil eine emotionale Ladung dahinter steckt. Mit meiner Wut-Praxis kann ich genau das besser einsortieren und im Nachhinein auf die Menschen wieder zugehen.

Wut als Schlüssel für Verbindung
Zerstörerisch kann ich mit meiner Wut dennoch sein, roh und naturgewaltig. Und in manchen Situationen macht es durchaus Sinn. Mal im Kleinen gedacht: wenn ich zum Beispiel einen Apfel esse, zerstöre ich den Apfel mit meinen Zähnen. Nur so kann ich meinen Hunger stillen, seine Inhaltsstoffe nutzen und der Apfel kann zu etwas Neuem werden.
Was mich immer wieder berührt ist, dass ich mit meiner Wut für Kontakt und Verbindung sorgen kann, indem ich von mir spreche, sage, was ich will, entsprechende Vorschläge mache und frage, wie es für mein Gegenüber klingt und ob er oder sie da auch Lust zu hat. Etwas konkreter könnte es so lauten: „Ich habe Lust auf Tapetenwechsel, ich will mal etwas Neues erleben wie eine Nacht unter freiem Himmel in den Bergen. Wie klingt das für Dich? Hast Du da auch Lust zu?“ Das Gegenüber kann mit „Ja“ oder „Nein“ oder „Ja, und…“ oder einem komplett neuen Gegenvorschlag antworten. So könnte der gemeinsame Beziehungs-Tanz beginnen.