Susan fütterte ihre Kaninchen mit voller Aufmerksamkeit und Liebe.
„Jetzt hast Du es schon wieder geschafft, nicht aufzufallen. Ich dachte, wir wären uns einig darüber gewesen, dass die Welt Dich braucht!? Sollen noch mehr Idioten das Land regieren, Arschlöcher an die Macht kommen und die Erde zerstören? Was hält Dich davon ab, kruzisalvatosca, endlich aufzustehen, Deine Meinung zu sagen und Dich einzubringen? Kruzisalvatosca nochmal.“ fauchte das weiße Kaninchen.
Susan wusste nichts zu erwidern. Sie war etwas perplex, dass das weiße Kaninchen mit ihr sprach. Passierte das in ihrem Kopf oder in echt? Während Susan sich Gedanken darüber machte, antwortete das Dunklere von beiden stattdessen: „Lass sie, sie ist noch nicht soweit. Reg Dich ab. Alles braucht seine Zeit. Reden allein bringt uns jetzt nicht weiter. Vielleicht ist es an der Zeit etwas Neues auszuprobieren. Magst Du, Susan?“
Kein Zweifel, sie sprachen mit ihr. Susan rief aufgeregt „Ja!“ Ihr ganzer Körper strahlte Hoffnung aus. Und eine gewisse Angst vor dem Ungewissen. „Okay, Liebes, was ist das Schlimmste, das dir passieren kann?“- „Ich weiß nicht. Vorne zu stehen und mich ganz zu zeigen fühlt sich an wie sterben.“- „Es fühlt sich an wie sterben. Gut.“ Die Turmuhr schlug und ein Schwarm Tauben flog vorm Fenster vorbei. Nach einem Moment der Pause sagte das dunkle Kaninchen: „Trink bitte den Inhalt des Fläschchens in Deiner Hosentasche!“ Susan wusste nicht, wovon das dunkle Kaninchen sprach. Sie hatte kein Fläschchen in… doch plötzlich spürte sie etwas Kleines, Festes in ihrer Hosentasche. Wie war das Fläschchen dorthin gekommen? Sie nahm die wirklich winzige Flasche und trank die leicht würzige Flüssigkeit restlos aus.
Eigentlich ganz lecker, dachte sie, bevor das Dunkle sagte: „Susan, Du hast Gift getrunken. Du stirbst jetzt! Deine letzten Minuten werden Dir vielleicht ewig vorkommen, doch es geht schnell und schmerzlos vorbei.“ Die Wut eines in die Falle gegangenen Tieres bäumte sich in Susan auf. Zum ersten Mal in ihrem Leben schrie sie mit ihrer eigenen Stimme, die nun endlich ihren gesamten Körper und den gesamten Raum ausfüllte „Was…?! Ich habe Dir vertraut. Das kann doch nicht Dein Ernst sein! Ich wollte etwas Neues in meinem Leben und nicht sterben! Ich will leben!! Du musst das wieder rückgängig machen. Ich will leben, hört ihr!“
Plötzlich blitzten Bilder von glückseligen Momenten mit ihrem Mann, ihren Eltern, im Sommerurlaub, am Meer, im Wald, im See badend vor ihrem inneren Auge auf. „Ja, Du willst leben. Was willst Du denn in Deinem Leben?“ fragte nun das weiße Kaninchen herausfordernd. „Ich, ich will mit meinen Liebsten zusammen sein! Ich will Geborgenheit und Zusammenhalt spüren! Ich will mich spüren! Ich will Abenteuer erleben!!“- „Ja genau. Du willst Abenteuer erleben. Was willst Du noch?“- Fast noch lauter schrie Susan: „Ich will ein Baby! Und ich will, dass die Menschheit endlich kapiert, dass wir nicht die Krone der Schöpfung sind. Dass wir unsere Lebensgrundlage zerstören, wenn wir so weitermachen!“- „Du stirbst prima, wenn man das so sagen kann.“ warf das weiße Kaninchen anerkennend ein.
Das Dunkle übernahm wieder das Wort: „Worüber bist Du froh, dass Du es nicht mehr machen musst, wenn Du gleich tot bist?“ Susan stutzte. Sie musste nicht mehr zur Arbeit gehen, diese unklaren Arbeitsverhältnisse und die ungerechte Behandlung ihrer Chefin aushalten. Sie musste keine unechten Freundschaften mehr mitmachen. Sie musste nichts mehr schaffen oder leisten. Und vor allem musste sie keine Angst mehr haben, dass sie nicht gut genug sein könnte oder nicht dazugehören würde. Tränen der Erleichterung brachen aus ihr heraus.
„Das machst Du wirklich großartig, Susan. Wovon hattest Du noch nicht genug in Deinem Leben?“ fragte das Weiße mit der rosa Stupsnase. Being with, eternal love, schoss es durch ihren Kopf – doch warum plötzlich auf Englisch? Es begann sich in ihr zu drehen. Adventure, ecstasy! Plötzlich wurde es ihr schwarz vor Augen, als hätte jemand ihr den Stecker gezogen. Sie schlug mit einem dumpfen Ton auf dem Boden auf. „Und nun verabschiede Dich. Kappe all die Verbindungen, die Dich auf der Erde halten und geh ins Licht.“ flüsterte das weiße Kaninchen ihr zu. „Verzeih uns, kruzisalvatosca, wir lieben Dich.“
Und nach einer ganzen Weile: „Wenn Du aufwachst, wirst Du eine neue Identität haben. Vertrau Deinen Impulsen! Du wirst wissen, wer Du zu sein hast und was Du zu tun hast. Vielleicht wirst Du sogar einen neuen Namen haben.“ Das Dunkle ergänzte: „Und gleichzeitig wirst Du es nicht wissen. Geh mit dieser Angst wie mit einem Licht, das Dich durch die Dunkelheit führt!“
Susan erwachte. Ihre Kaninchen hoppelten wie gewöhnlich in ihrem Käfig herum. Alles schien normal zu sein. Nur dass sie sich nicht normal fühlte. In ihrem Körper kribbelte und pulsierte es als würde Hochspannung durch sie hindurch strömen. Einen seltsamen Traum hatte sie gehabt. Doch, war es wirklich nur ein Traum? Aus Gewohnheit nahm sie ihr Tagebuch zur Hand und stoppte in der Bewegung. Sie wollte nicht mehr nur für sich schreiben. Sie fing an, in einem Blog über Dinge zu schreiben, die ihr am Herzen lagen und erreichte damit andere Menschen in ihren Herzen. Verbündete kamen in ihr Leben. Sie schuf mehrere Avatare, die in verschiedenen Foren kritische Fragen stellten und diskutierten. Politik und Presse und dadurch Millionen von Menschen waren auf sie aufmerksam geworden, denn sie war auf dem besten Wege, die nächste grüne Revolution einzuleiten.
Jasmin Benser, Bonn, 2021