Seit hunderten von Jahren nahm das Wasser seinen lebendigen Lauf. In der Nähe der Klamm entsprang er aus einer Felsspalte. Reinstes, köstlichstes Quellwasser sammelte sich in einem kleinen Steinbecken, bis es überlief. Aus dem Rinnsal wurde ein Bach und aus dem Bach ein Fluss. Je nach Umgebung lief der Fluss gemächlich und machte sich breit über die Felder her oder rannte wild zwischen Felsen und Steinen. Vereinigte sich dieser mit einem anderen Fluss, entstand ein reißender, kraftvoller Strom, der letztendlich ins große, weite Meer mündete.
Der Fluss nährte viele Lebewesen mit seinem Sein. Die Libelle zog ihren Nachwuchs an dem kleinen Steinbecken auf. Doch sie verstand nicht, warum der Fluss nicht überall so sanft und weich sein konnte, dass sie ihre Jungen unbesorgt großziehen konnte. Die Forelle spielte Quintett in ihrem Wohnzimmer weiter flussabwärts. Doch sie verstand nicht, warum der Fluss nicht überall ihr Wohnzimmer mit den netten Schlingalgen und Kieselhöhlen sein konnte. Der dicke Wal tauchte mit Verzücken in die tiefsten Gräben des Meeres, um dort in der Dunkelheit zu sich selbst zu finden. Doch er verstand nicht, warum es nicht überall ein Meer geben konnte, das so tief war, dass er sich finden konnte.
Der Zufall wollte es so, dass alle drei Tiere sich wünschten, das Wasser sollte so bleiben wie sie es in ihrer jeweiligen Umgebung kannten. Und wenn drei Tiere sich dasselbe wünschen, dann überbringt der kleine Wassermann diesen Wunsch ans Wasser. Das Wasser war jedoch überfordert mit diesem Wunsch und erstarrte. Mit der Zeit merkten die Tiere die Veränderung. Die Libellenjungen wuchsen nicht mehr. Dem Forellenquintett fehlte jeglicher Antrieb und der Wal pfiff auf seinem letzten Loch. Denn ihnen fehlte das frische Wasser und die sanfte Bewegung. Das Wehklagen der Tiere rührte den Fluss so sehr, dass er mit ihnen ins Gespräch gehen wollte: „Ich sehe, Ihr braucht frisches Wasser, damit Ihr Eurer Natur nachkommen könnt. Stimmt das?“ Als die Tiere dies bejahten, erklärte der Fluss: „Ich möchte aufrichtig und ehrlich mit Euch sein, denn die Klarheit und Wandlungsfähigkeit ist meine Natur. Und auch wenn mein Wasser im Verlauf auch mal aufgewühlt oder trüb sein sollte, möchte ich Euch mit meiner Liebe und Lebendigkeit dienen.“ Als die Tiere dies hörten, nahmen sie es wie eine umfassende Wahrheit an. Sie fühlten sie sich miteinander verbunden und vor Freude flossen ihnen nur so die Tränen. Und diese Tränen brachten Bewegung in das Wasser, welches erneut in Fluss geriet – für hunderte von Jahren.
Jasmin Benser, Otting, 2018